Willkommen zu einer weiteren Woche von „Sag mal, Duolingo“, der Ratgeber-Kolumne für Sprachenlernende. Frühere Ausgaben findest du hier.

Hallo, liebe Lernende! Hier ist wieder Sharon und ich bin diese Woche zurück, um eine E-Mail von jemandem zu beantworten, der ebenfalls Sprachen unterrichtet. Da ich es liebe, über das Sprachenlernen aus Sicht der Lernenden nachzudenken, freue ich schon mich sehr, die Frage dieser Woche zu beantworten.

Die Frage lautet:

Abbildung eines Briefes an „Sag mal, Duolingo“, auf dem steht: „Sag mal, Duolingo, ich lerne morgens und abends Spanisch und unterrichte tagsüber Englisch als Zweitsprache. Also habe ich darüber nachgedacht, mit welcher Art von Sprache die Lernenden auf verschiedenen Sprachniveaus umgehen können. Wie entscheidet ihr bei Duolingo, was Lernende in ihrer neuen Sprache verstehen können? Woher wisst ihr, dass jemand ein bestimmtes Niveau sicher beherrscht und bereit für eine neue Herausforderung ist? Und wie groß sollte diese Herausforderung sein? Danke, Fragen-Kostet-Nichts”

Fragen-Kostet-Nichts, da stellst du eine großartige Frage, denn darüber denken wir bei Duolingo jeden Tag nach: Was genau ist der passende Schwierigkeitsgrad und wie können wir diesen für jede:n Lernende:n erreichen?

Strebe beim Lernen immer nach (ein wenig) mehr

Die Franzosen haben ein Sprichwort: Petit à petit, l’oiseau fait son nid (Nach und nach baut der Vogel sein Nest). Das ist der Ansatz, den wir in deinen Duolingo-Kursen verfolgen: Wir geben dir in deiner Lernsprache Lektionen und Übungen, die nur ein wenig über das hinausgehen, was du bereits kennst. In jeder Lektion lernst du eine Handvoll neuer Wörter oder Strukturen, indem du sie in Sätzen siehst, die nur aus vertrauten Wörtern und Grammatikthemen bestehen, plus dem spezifischen neuen Element. Hier sind zwei Möglichkeiten, wie wir neue Wörter einführen:

Screenshot einer Duolingo-Übung im Englischkurs, indem die Lernenden die Bedeutung eines neuen Wortes erschließen sollen. Die Überschrift lautet: „‚Appreciate‘ bedeutet ... “. Darunter wird ein englischer Satz angezeigt, in dem alle Wörter in der normalen schwarzen Schriftart stehen, mit Ausnahme des Wortes „appreciate“, das fettgedruckt und lilafarben ist. Unter diesem Satz werden drei Optionen als Antwortmöglichkeiten angezeigt. Screenshot einer Übung im Englischkurs von Duolingo. Die Überschrift lautet: „Übersetze diesen Satz“. Darunter wird ein englischer Satz angezeigt, in dem die Wörter in der normalen schwarzen Schriftart stehen, mit Ausnahme des Wortes „spicy“, das fettgedruckt und lilafarben ist. Unter diesem Satz werden Wortkacheln auf Deutsch angezeigt.
In diesen Englischlektionen sind appreciate und spicy die neuen Wörter (das „+1“), die zum ersten Mal gelehrt werden, und alle anderen Wörter in den Sätzen sind bereits gelernt worden (das „i“).

Und hinter diesem Ansatz steckt Wissenschaft! Vor etwa einem Jahrhundert schlug ein Bildungswissenschaftler namens Lev Vygotsky vor, dass Lernen ein Prozess ist, bei dem man zunächst etwas mit Hilfe tut, das man später dann selbstständig tun kann. Er stellte sich die Fähigkeiten und das Wissen, das Lernende sich aneignen, innerhalb einer sogenannten Zone der proximalen Entwicklung vor:

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Deine „Zone der proximalen Entwicklung” sind die Fähigkeiten und das Wissen, die nur geringfügig über das hinausgehen, was du bereits weißt oder ganz alleine tun kannst.

Spätere Forschungen wandten diese Lerntheorie insbesondere auf Sprache an. In den 1980er Jahren sagte der Linguist Stephen Krashen, dass der ideale „Treibstoff“ für das Sprachenlernen sprachlicher „Input“ ist (wie das Lesen und Hören der Sprache) – aber dass dieser Input sorgfältig ausgewählt werden muss, um nur ein wenig fortgeschrittener zu sein als das, was man bereits weiß. So lässt sich zum Beispiel ein neues Wort oder eine neue Grammatikstruktur erschließen, indem man auf bereits Verstandenes zurückgreift und es mit Kontexthinweisen sowie Allgemeinwissen verknüpft. Er bezeichnete diesen Input als i + 1, wobei „i“ für das steht, was man bereits weiß, und „1“ das Neue ist, das unbekannt ist und das man herausfinden soll. Nach und nach integriert das Gehirn dann die neuen Elemente in die Wissensbasis – und bald ist es Teil dessen, was man bereits weiß, und es hilft dabei, das nächste neue Wort oder den nächsten Ausdruck zu erschließen. (Dein Gehirn sucht nach vielen Informationen, wenn es eine Sprache lernt!)

Der Trick für Lehrer:innen besteht natürlich darin, bei jeder Entwicklungsstufe für jede:n Lerner:in zu entscheiden, was „i“ und „1“ sind. Wenn wir dir eine Sprache geben, die „i + 20“ ist – eine Sprache, die weit über das hinausgeht, was du bereits weißt und verwenden kannst –, wirst du wahrscheinlich entmutigt und frustriert sein … und du könntest aufgeben. Wenn wir uns nur auf eine Sprache konzentrieren, die „i + 0“ ist – nur das, was du kennst und womit du dich wohlfühlst –, wird dein Fortschritt stagnieren und du wirst dich langweilen. Stattdessen wollen wir genau den passenden Schwierigkeitsgrad für dich finden, der weder zu einfach und noch zu schwer ist: Genau das ist deine „Zone der proximalen Entwicklung“! 

Wie wir den Schwierigkeitsgrad in den Duolingo-Lektionen einschätzen

Bei Duolingo verfolgen Lernplangestalter:innen, welche Wörter, Ausdrücke und grammatikalischen Strukturen zu welchem Zeitpunkt in jedem Kurs bereits vermittelt wurden. Das entspricht dem „i“ der Lernenden – das, was sie bereits gelernt haben. Dies ist der Inhalt, den wir verwenden, um den Lernenden die nächste Gruppe neuer Wörter und Ausdrücke beizubringen: den „+ 1“-Teil der Gleichung. Da jede Lektion nur 5–7 neue Wörter vorstellt, bleibt die Menge an unbekannter Sprache im Input im Rahmen des Machbaren. Wortlernhilfen sorgen außerdem dafür, dass selbst das neue Material verständlich ist und sich in deiner persönlichen Zone der proximalen Entwicklung befindet. Wenn dir diese neuen Wörter mit der Zeit in weiteren Lektionen wieder begegnen, festigen sie sich durch die Übung allmählich und werden Teil deines aktiven Wortschatzes, den du ohne Hilfe anwenden kannst.

Andere Funktionen wie Storys und Podcasts sind ebenfalls sorgfältig gestaltet, um viel verständlichen Input zu bieten, selbst wenn du nicht jedes Wort verstehst. Tatsächlich sind die Wörter, die du noch nicht kennst, wertvoll, weil sie dir beibringen, wie du Kontexthinweise nutzen kannst, um ihre Bedeutung zu erschließen. In Storys streben Lernplangestalter:innen eine 90/10-Aufteilung an: 90 % der Story werden mit Wörtern und Grammatikstrukturen erzählt, denen du bereits in den vorigen Lektionen begegnet bist, und die restlichen 10 % können neue Wörter oder Ausdrücke sein. Bei neuem Material, das schwer zu erraten ist, wirst du wahrscheinlich eine Übung sehen, die dir hilft, die Bedeutung zu überprüfen.

Screenshot eines Teils aus einer englischen Story, gefolgt von einer Übung, bei der die Lernenden dazu aufgefordert werden, das englische Wort anzutippen, das „heute“ bedeutet. Screenshot eines Teils aus einer englischen Story, gefolgt von einer Übung, bei der die Lernenden dazu aufgefordert werden, das englische Wort anzutippen, das die Bedeutung von „drawing“ hat.
In diesen beiden Aufgaben innerhalb der englischen Storys sollen die Lernenden die neuen Wörter in der Lernsprache anhand des Kontextes verstehen: today und sketch.

Duolingo Podcasts funktionieren ähnlich: Da hier natürliche Sprache verwendet wird, hörst du eine Mischung aus vertrauten und unbekannten Wörtern, und die Erzählung des Moderators liefert die nötige Stütze, damit Lernende mit mittlerem Sprachniveau der Geschichte folgen können.

Lernen, was für *dich* schwierig ist

Natürlich ist das, womit sich jemand wohlfühlt, von Person zu Person unterschiedlich, selbst wenn diese Personen zur gleichen Zeit die gleichen Lektionen abgeschlossen haben. Um jede:n Lerner:in individuell zu unterstützen, sind im Lernpfad spezielle personalisierte Übungseinheiten eingebettet, und in diesen Lektionen sieht jede Person etwas leicht anderes. Die Duolingo-App verfolgt, welche Themen dir noch schwerfallen und was dir leichter fällt, sodass dir die personalisierten Übungseinheiten ermöglichen, gezielt an deinen Schwachstellen im Hinblick auf Grammatik und Vokabular zu arbeiten. Auf diese Weise verbringst du mehr Zeit in deiner ganz persönlichen Zone der proximalen Entwicklung und kannst die Fähigkeiten aufbauen, die du für das neue Material in den kommenden Lektionen brauchst.

Screenshot einer personalisierten Übungslektion, bei der links oben auf dem Bildschirm in Orange „SCHWACHES WORT“ steht. Ein zweiter Screenshot einer anderen Übung aus einer personalisierten Übungslektion, die ebenfalls in Orange mit „SCHWACHES WORT“ markiert ist.
In personalisierten Übungslektionen wählt Duolingo Wörter, Sätze und Grammatikstrukturen aus, mit denen du noch Schwierigkeiten hattest, und erstellt anhand dieser eine neue Lektion für dich, um die Schwachstellen gezielt zu üben.

Mit den Fortschritten in der KI arbeiten wir jetzt auch an neuen Arten von Übungen, die es dir ermöglichen, den Schwierigkeitsgrad selbst anzupassen. In einigen Kursen – einschließlich Spanisch und Französisch – enthalten einige Storys am Ende eine offene Schreibübung mit offenem Ende (Artikel auf Englisch). Da du selbst entscheiden kannst, wie viel du sagst und welche Wörter und Grammatikstrukturen du verwendest, gibt dir diese Aufgabe einen Einblick in dein ganz persönliches „i“: Mit welchen sprachlichen Aspekten fühlst du dich am sichersten und welche Themen fallen dir noch schwer bzw. kannst du noch nicht ohne zusätzliche Hilfe verwenden?

Max-Abonnenten haben diese Art von Kontrolle des Schwierigkeitsgrades auch im Feature Rollenspiel, das es dir ermöglicht, ein Textgespräch mit Duolingo-Charakteren über Themen aus deinen Lektionen zu führen!

Das für dich *genau passende* Lernerlebnis

Das Erlernen einer Sprache ist ein langfristiges Ziel, das Ausdauer und regelmäßige Herausforderungen erfordert, aber unsere sorgfältig gestalteten Lektionen halten dich stets in deiner persönlichen Zone der proximalen Entwicklung!

Wenn du mehr über das Thema Sprachen und Sprachenlernen erfahren möchtest, schreib uns eine E-Mail an dearduolingo@duolingo.com.