Wie viele Sprachen sprichst du?

Je nachdem, aus welchem Winkel der Welt du kommst, liegt die Antwort auf diese Frage normalerweise irgendwo zwischen 1 und 5. Aber wenn die Frage auch Dialekte und andere Varianten von „Standardsprachen“ eingeschlossen hätte, wäre die Antwort sehr wahrscheinlich um einiges höher ausgefallen. Vielleicht sprichst du zu Hause einen Dialekt mit deiner Familie, aber eine andere Version deiner Sprache mit deinen Freunden. Bei der Arbeit schaltest du vielleicht auf eine formellere Ebene um und beim Fernsehen hörst du mehrere andere Varianten. Du siehst diese wahrscheinlich nicht als verschiedene Sprachen an – würdest du also von dir sagen, dass du mehrsprachig bist?

Dialekte und Sprachen

Selbst unter Experten gibt es keine allgemein anerkannte Definition der Merkmale von „Sprachen“ einerseits und „Dialekten“ andererseits. Dialekte (Artikel auf Englisch) werden oft als Varianten einer Standardsprache verstanden. Sie unterscheiden sich in der Aussprache und haben andere Wörter sowie eine andere Grammatik. Dennoch werden sie häufig nicht berücksichtigt, wenn von „Sprache“ und Mehrsprachigkeit die Rede ist. Manchmal wird die Grenze zwischen einem Dialekt und einer Sprache danach gezogen, inwieweit die Leute einander verstehen.

Nehmen wir als Beispiel zwei Menschen, die verschiedene Varianten einer gesprochenen Sprache sprechen. Wenn sie ihr jeweiliges Gegenüber verstehen, auch wenn sie selbst die Dinge anders aussprechen würden, dann geht man davon aus, dass sie zwei Dialekte derselben Sprache sprechen. Ein Hamburger mag Schwierigkeiten haben, den urwüchsigen Dialekt eines Bayern zu verstehen, und doch sprechen sie beide „Deutsch“. Dagegen verstehen Sprecher verschiedener skandinavischer Sprachen einander bis zu einem gewissen – unterschiedlichen – Grad, obwohl diese Varianten „Sprachen“ genannt werden und nicht „Dialekte“. Wann erhält also ein Dialekt die Rechte einer eigenständigen Sprache?

Erinnern wir uns an die oben gestellte Frage. Nach welchen Gesichtspunkten hast du entschieden, welche Dialekte und Sprachen für die Antwort zählen und welche nicht?

  • Hast du berücksichtigt, wie stark sie sich ähneln oder unterscheiden?
  • Hat dabei eine Rolle gespielt, dass du sie offiziell in der Schule gelernt hast?
  • Fallen dir Gründe dafür ein, warum einige davon „Sprachen“ genannt werden und andere „Dialekte“?

Sehen wir uns einmal Zweisprachigkeit und den Wechsel zwischen verschiedenen Dialekten an und wie unser Gehirn gemäß den Erkenntnissen der Wissenschaft mit mehreren Sprachen umgeht.

Ist das Beherrschen mehrerer „Dialekte“ dasselbe wie das Beherrschen mehrerer Sprachen?

Da einige Varianten angesehener sind als andere und den Status einer „Sprache“ genießen, kann es vorkommen, dass Sprecher derselben Community zwischen der Verwendung einer „hohen“ und anerkannten Standardvariante in formellen Situationen (z. B. während des Schulbesuchs) und der Verwendung einer „niedrigeren“ Variante in informellen Situationen (z. B. zu Hause) wechseln. Man nennt dies Diglossie. Solche Situationen gibt es auf der ganzen Welt gleichermaßen für Sprachen wie für Dialekte.

Allerdings wird der Wechsel zwischen verschiedenen Varianten nicht immer so bewundert wie der zwischen Sprachen. Das Gehirn vollbringt aber beide Male eine ähnliche kognitive Leistung!

Mehrsprachige wechseln zwischen Sprachen abhängig davon, welche Variante die Person benutzt, mit der sie gerade kommunizieren. Jemand, der Spanisch und Deutsch spricht und gerade Urlaub in Deutschland macht, würde z. B. Spanisch verwenden, um seine spanische Familie zu fragen, was sie essen möchte, und dann auf Deutsch beim Kellner bestellen.

Auf dieselbe Weise wählen auch Sprecher von Dialekten die Sprache, die sie verwenden, abhängig davon, was die Person spricht, mit der sie kommunizieren. Auch wenn ihr Gesprächspartner beide Varianten versteht, fühlen sie sich veranlasst, die Variante zu wählen, die in der aktuellen Umgebung und Situation gesellschaftlich relevanter ist. Beispielsweise wird ein Sprecher des Ostfriesischen während eines Bewerbungsgesprächs ins Hochdeutsche wechseln. Die Frage ist nun: Inwieweit sind diese Fähigkeiten und Erfahrungen der Sprecher verschiedener Sprachen und Dialekte miteinander vergleichbar?

Bild eines Gehirns, das elektrische Funken sprüht

Das Gehirn und die Zweisprachigkeit

Unser Gehirn ist darauf ausgelegt, mehrere Sprachen – und Dialekte – zu bewältigen. In den letzten Jahrzehnten ist das wissenschaftliche Interesse an diesem Forschungsbereich stark gestiegen. Die Forschung zur Zweisprachigkeit zeigt, dass selbst in Situationen, in denen man voraussichtlich nur eine Sprache verwendet, das Gehirn alle Varianten aktiviert, die die Person kennt. Diese können die Variante, die zum Einsatz kommt, beeinflussen.

Wie kommen Zweisprachige also mit den verschiedenen Sprachen zurecht? Zum Einen ist Inhibition wichtig, was man als das Herunterdrehen der Lautstärke im kognitiven Bereich beschreiben könnte. Wenn eine mehrsprachige Person eine bestimmte Variante verwenden will, werden ihre in diesem Moment nicht verwendeten Sprachen leiser gestellt oder inhibiert, d. h. nur heruntergedreht, aber nicht ausgeschaltet. Dieses unterbewusste Inhibieren der anderen Varianten verhindert, dass die mehrsprachige Person beim Sprechen einer Sprache aus Versehen in eine andere Variante rutscht.

Viele Mehrsprachige wenden allerdings nicht nur Inhibition an, sie haben auch Übung darin, absichtlich zwei Sprachen gleichzeitig zu nutzen. Sprecher, die sogar innerhalb eines Satzes die Sprache wechseln (Artikel auf Englisch), müssen all ihre Varianten aktiv halten, damit die Lautstärke aller ihrer Sprachen aufgedreht bleibt! Sie sind es gewohnt, die Lautstärke zu verringern, um immer nur eine Sprache auf einmal zu verwenden, und sie müssen zusätzlich die kognitive Fähigkeit üben, die Lautstärke beider Sprachen zu regeln.

Das Gehirn und „Dialekte“

In meiner Arbeit untersuche ich diese Umschaltvorgänge bei Sprechern von Varianten, die nicht allgemein als eigenständige Sprachen anerkannt sind, wie z. B. Dundonian Scots (dem schottischen Dialekt von Dundee), einer Variante, die in meiner Heimatstadt gesprochen wird. Das Schottische ist eine germanische Sprache, die nah mit dem Englischen (Artikel auf Englisch) verwandt ist. Obwohl das Schottische von Institutionen wie dem Europarat, der UNESCO sowie den Regierungen des Vereinigten Königreichs und Schottlands offiziell als Minderheitensprache anerkannt ist, findet es sich häufig im Vergleich zum Englischen in der Rolle der weniger angesehen Variante wieder. In der Tat betrachten sogar viele Sprecher des Schottischen ihre Sprache nicht als eigenständige Sprache, sondern als einen Dialekt und „nur eine Art zu sprechen“ (Artikel auf Englisch).

Forschungen ergeben jedoch, dass sich diese Sprecher wie Zweisprachige verhalten: Sie zeigen sehr ähnliche Umschaltmuster in Abhängigkeit davon, wie gut sie das Schottische und das Englische beherrschen, und wie häufig sie sie verwenden. Das ist ein Anzeichen dafür, dass das Gehirn dieser Sprecher die beiden Varianten wie zwei Sprachen behandelt und die Personen gewohnt sind, zwischen diesen Sprachen umzuschalten. Da diesen „Dialekt“varianten jedoch manchmal nur ein niedriger Status zugesprochen wird, geben ihre Sprecher meist an, nur eine Sprache zu sprechen, nämlich Englisch. In Studien aus anderen Erdteilen wurden diese Phänomene von Zweisprachigkeit auch bei Sprechern eng verwandter Sprachvarianten nachgewiesen!

Duolingo-Charakter Vikram in nachdenklicher Haltung mit einer Hand unter dem Kinn

Also, wie viele Sprachen beherrschst du wirklich?

Wie der beliebte Satz „Eine Sprache ist ein Dialekt mit Armee und Marine“ schon andeutet, wird die Unterscheidung zwischen einem Dialekt und einer Sprache häufig eher nach soziopolitischen als nach linguistischen Gesichtspunkten vorgenommen. Und wenn wir als Forscher die kognitiven Unterschiede zwischen Sprechern nur einer Sprache im Vergleich zu Mehrsprachigen analysieren, stellen wir fest, dass die Grenze zwischen „Sprache“ und „Dialekt“ verschwimmt: Es scheint, dass beide auf ähnliche Weise gespeichert und verarbeitet werden.

Wenn du also das nächste Mal zwischen Dialekten oder anderen Varianten wechselst, die du vielleicht nicht als „Sprachen“ ansiehst, so ist das durchaus eine Form von Mehrsprachigkeit: Du trainierst dann deine kognitiven Mechanismen zur Sprachkontrolle!